Virtuelle Hauptversammlung soll dauerhaft ermöglicht werden
Das Bundesjustizministerium hat am 10.02.2022 den Referentenentwurf (RefE) für eine dauerhafte Regelung der virtuellen Hauptversammlung veröffentlicht. Bereits seit April 2020 steht den Aktionären nach dem Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts‑, Genossenschafts‑, Vereins‑, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (COVMG) ein digitales Versammlungsformat zur Verfügung (siehe dazu auch unseren Beitrag vom 22.12.2020). Die aktuell bis Ende August 2022 befristeten Vorschriften sollen nach den neuesten Entwicklungen und dem Willen der Bundesregierung mit einigen inhaltlichen Änderungen in dauerhafte Regelungen des Aktiengesetzes überführt werden.
Neues digitales Versammlungsformat neben der physischen Hauptversammlung
Die neuen Regelungen sehen eine Versammlung vor, an der nur Verwaltungsmitglieder physisch teilnehmen, während die Aktionäre und ihre Bevollmächtigten auf eine elektronische Teilnahme beschränkt sind (§ 118a AktG‑E). Gesellschaften in AG‑, SE‑, KGaA- und VvAG-Rechtsform sollen ebenfalls von dieser Möglichkeit Gebrauch machen können. Zu den Voraussetzungen einer virtuellen Hauptversammlung gehören unverändert:
- Live-Videoübertragung der gesamten Versammlung in Bild und Ton (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AktG‑E),
- Stimmrechtsausübung per Briefwahl, elektronischer Kommunikation oder Bevollmächtigung (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AktG‑E)
- Elektronische Möglichkeit eines Widerspruchs zur Niederschrift (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 8 AktG‑E)
Unberührt bleibt die Möglichkeit, Aktionären in Bezug auf eine Präsenzversammlung die Gelegenheit zu geben, ihre Rechte auf elektronischem Weg auszuüben (§ 118 Abs. 1 S. 2 ff., Abs. 2 AktG).
Aktionärsanträge und Wahlvorschläge
Gegenanträge und Wahlvorschläge sollen Aktionäre bis zum Ablauf der 14-Tage-Frist aus § 126 Abs. 1 AktG stellen können, in der Hauptversammlung selbst allerdings nur dann, wenn dies in der Einberufung gestattet wird (§ 126 Abs. 4 AktG‑E). Diese neue Möglichkeit von Verfahrensanträgen während der Versammlung ist praktisch sehr relevant. Anträge etwa zur Geschäftsordnung oder zur Abwahl des Versammlungsleiters sollen dagegen stets auch in der Versammlung möglich sein (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AktG‑E).
Fragerecht der Aktionäre wird gestärkt
Die neuen §§ 118a, 130a AktG E sollen sicherstellen, dass Aktionäre virtualisiert das volle Fragerecht des § 131 AktG der Präsenzhauptversammlung haben. Dieses verlagert sich lediglich ins Vorfeld, weil die Erfahrungen der letzten zwei Jahre gezeigt haben, dass dies die Qualität von Frage und Antwort verbessern kann. Ergänzt wird dies durch eine virtuelle Nachfragemöglichkeit. Im RefE sind verschiedene Abweichungen und Klarstellungen zu den Regelungen im COVMG vorgesehen:
- Obligatorische Vorabeinreichung von Fragen bis spätestens vier Tage vor der Versammlung auf Verlangen des Vorstands (§ 131 Abs. 1a AktG‑E; bisher ein Tag vor der Versammlung gemäß § 1 Abs. 2 S. 2 COVMG)
- Fristberechnung nach § 121 Abs. 7 AktG
- Mögliche Beschränkung des Fragerechts auf einen angemessenen Umfang und auf angemeldete Aktionäre (§ 131 Abs. 1b AktG‑E)
- Obligatorisches Zugänglichmachen eingereichter Fragen an andere Aktionäre (§ 131 Abs. 1c AktG‑E)
- Obligatorisches Nachfragerecht in der Versammlung (§ 131 Abs. 1d AktG‑E)
Neuregelungen zu Stellungnahmen und Redebeiträgen von Aktionären
Völlig neu geregelt werden die Passagen zum Stellungnahme- und Rederecht der Aktionäre. Danach ist den Aktionären zunächst bis spätestens vier Tage vor der Versammlung die Möglichkeit zu geben, eigene Stellungnahmen zur Tagesordnung einzureichen, die die Gesellschaft dann den anderen Aktionären zugänglich zu machen hat (§ 130a Abs. 1 – 3 AktG‑E). Ebenfalls bis spätestens vier Tage vor der Versammlung können Aktionäre eigene Live-Redebeiträge anmelden, die dann in der Versammlung über das von der Gesellschaft angebotene Videokommunikationssystem gehalten werden können (§ 130a Abs. 4 – 6 AktG‑E). Live-Fragen oder ‑Anträge im Rahmen eines Redebeitrags sollen allerdings nicht statthaft sein (§ 130a Abs. 7 AktG‑E).
Anfechtungsausschluss und weitere virtuelle Besonderheiten
Weitere Neuregelungen betreffen die Anforderungen an das virtuelle Format, hier sind insbesondere zu nennen:
- Obligatorisches Zugänglichmachen des Vorstandsberichts wenigstens in Grundzügen spätestens sechs Tage vor der Versammlung (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 AktG‑E)
- Ergänzung der Einberufungsinformationen nach § 121 Abs. 3 AktG um spezifische Anleitungen etwa zum Fragerecht und zur Stimmabgabe (§ 121 Abs. 4b AktG‑E)
- Aufnahme aller zugeschalteten Aktionäre und Aktionärsvertreter ins Teilnehmerverzeichnis (§ 129 Abs. 1 S. 2 AktG‑E)
- Zwingende physische Anwesenheit des Notars (§ 130 Abs. 1a AktG‑E)
- Weitreichender Anfechtungsausschluss für Rechtsverletzungen, die durch technische Störungen verursacht werden (§ 243 Abs. 3 Nr. 2 AktG‑E). Der bisherige, noch weitergehende Anfechtungsausschluss nach dem COVMG wird damit in die Systematik des AktG eingepasst.
- Neu ist auch der Anfechtungsausschluss nach § 243 Abs. 3 Nr. 4 AktG E, der auch bei physischen Hauptversammlungen anzuwenden sein wird: Bei Verstößen gegen die Pflicht zur Erteilung einer elektronischen Zugangsbestätigung nach § 118 Abs. 1 Satz 3 – 5, Abs. 2 Satz 2 AktG sowie § 118a Abs. 1 Satz 4 AktG E ist die Anfechtung ausgeschlossen. Dieser Anfechtungsausschluss soll erstmals für Hauptversammlungen Anwendung finden, die ab dem Inkrafttreten der Neuregelungen einberufen werden.
Satzungsgrundlage und Übergangsregelung
Eine virtuelle Hauptversammlung soll künftig grundsätzlich nur noch mit einer auf längstens fünf Jahre zu befristenden Regelung in der Satzung möglich sein (§ 118a Abs. 1, Abs. 3 – 5 AktG‑E). Allerdings sollen Hauptversammlungen, die bis 31. August 2023 einberufen werden, vom Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats auch ohne Satzungsgrundlage als virtuelle Hauptversammlungen einberufen werden können (§ 26m Abs. 1 EGAktG‑E). Damit soll den Gesellschaften die Gelegenheit gegeben werden, die Satzungsgrundlage für das virtuelle Format auch nach Auslaufen der COVMG-Regelungen am 31. August 2022 noch in einer virtuellen Versammlung zu beschließen.
Fazit
Die sich in der Praxis bewährten Regelungen des COVMG werden konsequent weitergeführt, die Regelungen des RefE gehen somit in die richtige Richtung und stellen eine bedeutsame Neuerung für die Hauptversammlung dar. Der RefE nimmt die während der Corona-Zeit auf das Teilnahme- und Stimmrecht beschränkten Aktionärsbefugnisse zurück. Die Ausübung wichtiger Aktionärsrechte werden ins Vorfeld der Versammlung verlagert und könnten dazu führen, den Versammlungsablauf vor Frage- und Redebeiträgen der sog. Berufsaktionäre stärker zu schützen. Andererseits sind (sofern die Einberufung dies gestattet) nach dem RefE Verfahrensanträge aller Art (z. B. Beschlussvorschläge), die möglicherweise überraschend sein können, künftig während der Versammlung möglich. Die Fiktion für Gegenanträge, die im Zeitpunkt der Zugänglichmachung als gestellt gelten, stellt somit eine praktisch sehr bedeutsame Neuerung dar.
Es ist mit einer zügigen Umsetzung der Änderungen (mit einigen Anpassungen) im Gesetzgebungsverfahren zu rechnen. Offen bleibt, ob auch andere Rechtsformen, etwa Genossenschaften, GmbHs sowie GmbH & Co. KGs künftig die Möglichkeit haben werden, digitale Gesellschafterversammlungen abzuhalten. Der RefE sieht für diese Gesellschaftsformen bislang keine virtuellen Lösungen vor.
Anpassungen in der Satzung sind schon für diese Hauptversammlungssaison zu überlegen, allerdings werden erst mit Inkrafttreten die endgültigen Regelungen zur Einführung der virtuellen Hauptversammlung final feststehen.