Regierungsentwurf zur virtuellen Hauptversammlung –
ein Schritt in die falsche Richtung
Nur kurz nachdem das Bundesjustizministerium am 10.02.2022 den Referentenentwurf (RefE) für eine dauerhafte Regelung der virtuellen Hauptversammlung veröffentlicht hat (siehe dazu auch unseren Beitrag vom 03.03.2022) und bevor beteiligte Kreise dazu Stellung nehmen konnten, hat das Bundeskabinett am 27.04.2022 den Regierungsentwurf (RegE) vorgelegt. Der RegE sieht erhebliche Änderungen gegenüber dem RefE vor. Erklärter Wille des Gesetzgebers ist es, den Ablauf der Versammlung und die Rechtewahrnehmung der Aktionäre im Rahmen der virtuellen Hauptversammlung möglichst nah an die Prozesse der Präsenzhauptversammlung anzulehnen. Dies betrifft insbesondere das Rede- und Fragerecht, aber auch das Recht zur Stellung von Anträgen. Das Bundeskabinett kommt damit insbesondere Aktionärsschützern entgegen, die zum Teil heftige Kritik an dem RefE geäußert haben, der aus ihrer Sicht zu „unternehmensfreundlich“ ausgefallen war. Die wesentlichen Änderungen gegenüber dem RefE sind wie folgt:
Stellungnahme- und Rederecht
- Es wird klargestellt, dass den Aktionären nicht nur eine Redemöglichkeit zusteht, sondern ein Rederecht (§§ 118a Abs. 1 Nr. 7, 130a Abs. 5 AktG‑E). Dies kann per Videokommunikation ausgeübt werden. Entsprechend wurde auch die Widerspruchsmöglichkeit (§ 118a Abs. 1 Nr. 8 AktG‑E) in ein Widerspruchsrecht (im Wege der elektronischen Kommunikation) umgestaltet.
- Die von Aktionären eingereichten Stellungnahmen sind allen Aktionären bis spätestens vier Tage vor der Versammlung zugänglich zu machen (§ 130a Abs. 3 AktG‑E).
- Die im RefE vorgesehene Möglichkeit, in der Einberufung einen angemessenen Gesamtzeitraum für die Redebeträge aller Aktionäre sowie eine angemessene Anzahl der zuzulassenden Redebeiträge festzulegen, wurde gestrichen (§ 130a Abs. 4 S. 4 AktG-RefE). Eine Beschränkung kann folglich nur noch der Versammlungsleiter in der Versammlung (wie bei der Präsenz-HV) vornehmen.
- Voraussetzung für einen Redebeitrag ist nicht mehr dessen Anmeldung, anders war dies noch im RefE vorgesehen (§ 130a Abs. 5 S. 1 AktG-RefE).
- Ebenso ist auch die zeitliche Reihenfolge der angemeldeten Redebeiträge (§ 130a Abs. 3 AktG-RefE) nicht mehr im RegE enthalten.
- Erhalten blieb immerhin noch die Möglichkeit, den Umfang der vor der HV zu veröffentlichenden Stellungnahmen (angemessen) zu beschränken (§ 130a Abs. 1 S. 2 AktG‑E). Wie dies umgesetzt wird, soll laut der Gesetzesbegründung auf das verwendete Medium ankommen. Bei Textbotschaften biete sich eine Beschränkung der Zeichenanzahl an, bei Videobotschaften eine Beschränkung der Dauer.
Ausweitung des Auskunfts-/Fragerechts der Aktionäre
- Neu ist, dass rechtzeitig gestellte Fragen der Aktionäre allen Aktionären zugänglich zu machen sind und bis spätestens einen Tag vor der Versammlung auch schon beantwortet werden müssen (§ 131 Abs. 1c AktG‑E. Hierdurch entsteht erheblicher Druck für den Vorstand: Fragen können noch bis drei Tage vor der Versammlung bei der Gesellschaft eingereicht werden (§ 131 Abs. 1a AktG‑E) (RefE: 4 Tage). Zudem dürfte eine schriftliche Beantwortung im Zweifel einen deutlich höheren Grad der Präzisierung erfordern als im Fall einer spontanen (mündlichen) Behandlung während der Versammlung.
- Das Fragerecht wird nochmals ausgeweitet und geht nun im Ergebnis sogar über das Maß der Präsenz-HV hinaus. Hiernach sind Nachfragen möglich
- zu allen vorab eingereichten Fragen, gleich ob diese von dem nachfragenden Aktionär selbst oder einem anderen Aktionär stammen;
- zu den vor und in der Versammlung gegebenen Antworten des Vorstands;
sowie zu in der Versammlung in Redebeiträgen gestellten Fragen (§ 131 Abs. 1d AktG‑E).
- Damit hat es aber auch noch nicht sein Bewenden. Nach dem RegE sollen auch Fragen zu Sachverhalten zulässig sein, die sich nach Ablauf der Frist zur Einreichung von Fragen ergeben haben. Schließlich sollen, wenn die Beantwortung „innerhalb eines angemessenen Zeitraums möglich ist“, auch weitere Fragen zulässig sein (§ 131 Abs. 1e AktG‑E).
- Abweichend vom RefE können das Auskunftsverlangen, Nachfragen sowie weitere Fragen auch im Rahmen des Redebeitrags der Aktionäre geltend gemacht bzw. gestellt werden (§ 130a Abs. 5 AktG‑E).
- Erhalten blieb, wie bei dem Recht zur Einreichung von Stellungnahmen, (glücklicherweise) die Möglichkeit, den Umfang der Einreichung von Fragen in der Einberufung (angemessen) zu beschränken (§ 131 Abs. 1b S. 1 AktG‑E).
- Das Auskunftsrecht, das Nachfragerecht und das Fragerecht in der Hauptversammlung können ferner auf die Videokommunikation beschränkt werden (§ 131 Abs. 1f AktG‑E).
Antragsrecht
- Aktionärsanträge und Wahlvorschläge: Die bislang in § 118a Abs. 1 Nr. 3 AktG-RefE vorgesehene Beschränkung auf Anträge, die keine Gegenanträge im Sinne des § 126 AktG sind, wurde gestrichen. Damit können auch noch in der Hauptversammlung Gegenanträge oder Wahlvorschläge gestellt werden. Laut der Gesetzesbegründung sollen dazu ausdrücklich auch Geschäftsordnungsanträge, wie die Abwahl des Versammlungsleiters, aber auch die Bestellung von Sonderprüfern gehören.
- Die Gesellschaft hat zudem zu ermöglichen, dass das Stimmrecht zu diesen Anträgen ausgeübt werden kann, sobald die Aktionäre die gesetzlichen oder satzungsmäßigen Voraussetzungen für die Ausübung des Stimmrechts nachweisen können (§ 126 Abs. 4 S. 1 AktG‑E).
Satzungsermächtigung
Die Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung bedarf, entsprechend der Regelung im RefE, einer Ermächtigung in der Satzung. Nach dem RegE soll es aber möglich sein, bestimmte Gegenstände von der virtuellen HV auszunehmen (§ 118a Abs. 1 S. 2 AktG‑E).
Fazit
Die aus der Not der Pandemie geborene virtuelle Hauptversammlung hat sich in den vergangenen zwei Jahren etabliert und bewährt. Ein entscheidender Grund für die hohe Akzeptanz war der weitreichende Anfechtungsausschluss unter dem COVMG und die damit verbundene Rechtssicherheit bei der Durchführung der Versammlung. Dass die Gesellschaften dies zur Umgehung der Rechte der Aktionäre genutzt hätten, war nicht zu beobachten, im Gegenteil: Viele Gesellschaften sind freiwillig über die gesetzlichen Anforderungen hinausgegangen. Auch klar ist, dass nicht sämtliche Regelungen des COVMG für eine permanente Regelung des Rechts der virtuellen HV beibehalten werden konnten. Auf dieser Prämisse basierte der RefE. Er suchte einen maßvollen Ausgleich zwischen dem Interesse der Gesellschaften an der rechtssicheren Durchführung der HV und dem Interesse der Aktionäre bezüglich der Wahrnehmung ihrer Rechte. Demgemäß haben wir ihn in unserem letzten Beitrag als Schritt in die Richtung bezeichnet. Der jetzige Entwurf ist dagegen ein Schritt in die falsche Richtung. Der Gesetzgeber verkennt, dass die virtuelle HV bei aller Ähnlichkeit keine Präsenzveranstaltung ist und die dafür geltenden Rechte nicht einfach eins zu eins auf die virtuelle HV übertragen werden können. Die Hemmschwelle, online eine Vielzahl von Fragen oder sachfremde Anträge zu stellen, ist viel geringer als in einer Präsenzversammlung. Dagegen sind die Möglichkeiten für den Versammlungsleiter, schnell und richtig darauf reagieren zu können, ungleich schwieriger. Man mag sich gar nicht ausmalen, was sich Aktionäre, die zu Hause vor ihren Rechnern sitzen, alles einfallen lassen, um eine schwierige HV, auf der zum Beispiel Strukturmaßnahmen beschlossen werden sollen, zu Fall zu bringen.
Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass viele Gesellschaften überlegen werden, künftig wieder zur Präsenzversammlung zurückzukehren. In diesem Fall hätte der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Einführung von virtuellen Hauptversammlungen der viel beschworenen Digitalisierung einen Bärendienst erwiesen. Der virtuellen HV würde es dann so ergehen wie der Online-Teilnahme (§ 118 Abs. 1 S. 2 AktG): Schon seit 2009 theoretisch möglich, aber leider von der Praxis nicht angenommen.
Es bleibt zu hoffen, dass im weiteren Gesetzgebungsverfahren Korrekturen vorgenommen werden. Viel Zeit bleibt indes nicht, weil die jetzigen Regelungen schon Ende August auslaufen.