Bundesverfassungsgericht:
Sonderbare steuerliche Entscheidungen zum Jahresende 2021
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu steuerlichen Themen sorgen immer wieder für Aufsehen – zuletzt die Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der 6%igen Finanzamtszinsen seit 2014, wobei das BVerfG eine weitere Anwendung dieser (verfassungswidrigen) Regelung bis einschließlich 2018 zuließ (Beschluss vom 08.07.2021 – 1 BvR 2422/17). Schon diese Entscheidung (Akzeptanz eines verfassungswidrigen Zustands für die Jahre 2014 – 2018) ist ernüchternd, drei weitere Entscheidungen des BVerfG lassen den Rechtsanwender jedoch noch ratloser zurück.
Beschluss vom 27.10.2021 – 2 BvL 12/11: Keine Klärung zur etwaigen verfassungswidrigen Nichterstattung von Solidaritätszuschlag nach zehn Jahren Verfahrensdauer
Streitig war eine heute weitgehend vergessene Frage, nämlich ob bei der Erstattung von sog. Körperschaftsteuerguthaben aus der Umstellung des Systems der Körperschaftsteuer vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren im Jahr 2001 entsprechend auch der anteilige Solidaritätszuschlag zu erstatten ist. Das einfache Recht sah dies nicht vor. Nach Auffassung des Bundesfinanzhofes im Jahr 2011 ist diese (Nicht-)Regelung verfassungswidrig, entsprechend legte der BFH dies dem BVerfG zu Prüfung vor (Vorlagebeschluss vom 10.08.2011 – I R 39/10).
Diese Prüfung scheint sorgfältig ergangen zu sein – zumindest hat das BVerfG mehr als zehn Jahre hierfür benötigt. Innerhalb dieser Prüfungszeit hat das BVerfG aber nicht die Verfassungsmäßigkeit der Regelung geprüft und beurteilt, sondern lediglich festgestellt, dass die Vorlage des Bundesfinanzhofes unzulässig sei, da sie nicht den umfangreichen Begründungsanforderungen für Richtervorlagen und Verfassungsbeschwerden genüge. Die Richter des BVerfG bescheinigen den (damaligen) Richtern des I. Senats des Bundesfinanzhofs, dass diese nicht in der Lage gewesen seien, eine ordnungsgemäße Vorlage an das BVerfG zu erstellen – eine wunderliche Feststellung.
Im Ergebnis bleibt damit diese Streitfrage – für die die Klage im Jahr 2009 erhoben wurde – ungeklärt. Da die etwaige Verfassungswidrigkeit der (Nicht-)Regelung des BFH vom BVerfG nicht geklärt wurde, gibt es – wenn der dortigen Klägerin, eine GmbH, im Laufe der Jahre nicht das Interesse an diesem Rechtsstreit verlorengegangen ist – wohl nur zwei Möglichkeiten. Entweder legt der BFH dem BVerfG diese Frage – mit nachgebesserter Begründung – nochmals vor. In diesem Fall dürften weitere Jahre vergehen. Oder der I. Senat in inzwischen geänderter personeller Besetzung kommt bei der neuerlichen Prüfung zum Ergebnis, dass die Verfassungswidrigkeit doch nicht so eindeutig sei und weist die Klage verfahrensbeendend ab.
Beschluss vom 08.12.2021 – 2 BvL 1/13: Verfassungswidrige Regelung Steuertarif Einkommensteuer 2007
Streitig war, ob die nur im Jahr 2007 geltende Ausnahme von der neu eingeführten sog. „Reichensteuer“ (Spitzensteuersatz Einkommensteuer 45 % bei zu versteuernden Einkünften ab 250.000 Euro p.a. bzw. 500.000 Euro bei Zusammenveranlagung) für Gewinneinkünfte (für diese blieb es beim Spitzensteuersatz von 42 %) verfassungsgemäß war. Geklagt hatte ein Steuerpflichtiger, der Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit über diesen Beträgen hatte und sich gegen die Besteuerung mit dem Spitzensteuersatz von 45 % wandte, da er den Gleichheitsgrundsatz (Höherbesteuerung der sog. Überschusseinkünfte, z. B. nichtselbständige Tätigkeit, gegenüber Gewinneinkünften, z. B. freiberufliche Tätigkeit) verletzt sah. Das FG Düsseldorf erachtete die gesetzliche Regelung als verfassungswidrig und rief daher das BVerfG an (FG Düsseldorf vom 04.12.2012, – 1 K 2309/09 E).
Das BVerfG bestätigte diese Einschätzung (nach neun Jahren) und erklärte die (damalige) gesetzliche Regelung als mit dem Grundgesetz unvereinbar und verpflichtete den Gesetzgeber, bis zum 31.12.2022 rückwirkend für das Jahr 2007 eine Neuregelung zu schaffen. Das BVerfG weist dabei darauf hin (Tz. 91), dass der Gesetzgeber zur Vermeidung der Ungleichheit auch rückwirkend die Begünstigung für Gewinneinkünfte streichen könne. Sofern der Gesetzgeber sich für diesen Weg entscheidet, wird das für die im Jahr 2007 begünstigten Steuerpflichtigen mit hohen Gewinneinkünften in der Regel keine Nachteile mehr haben, da deren Veranlagungen des Jahres 2007 in aller Regel bestandskräftig und nicht mehr änderbar sein werden, so dass sich insoweit keine Änderungen ergäben. Der Kläger hätte dann freilich Pech, seine Benachteiligung würde zwar juristisch beseitigt, praktisch aber endgültig bestehen bleiben.
Beschluss vom 16.12.2021 – 2 BvR 2099/21: Erfolglose Verfassungsbeschwerde zur Richterauswahl am Bundesfinanzhof
Hintergrund des Streits sind die derzeit am obersten Steuergericht zu besetzenden Positionen des Präsidenten, Vizepräsidenten und mehrerer Senatsvorsitzender. Die Verfassungsbeschwerde wurde von einer Richterin des Bundesfinanzhofes, die sich um eine derart höhere Position bewarb, in eigener Sache erhoben. Soweit aus dem veröffentlichten Beschluss (und auch aus Presseberichten) erkennbar, tobt um diese Richterbesetzung am Bundesfinanzhof ein erbitterter Streit. Die Begründung der Zurückweisung der – von einer obersten Bundesrichterin in eigener Sache verfassten – Verfassungsbeschwerde erging mit markigen Worten der Richterkollegen des BVerfG („entbehrt jeglicher Grundlage“, „ist allerdings auch im Übrigen ein substantiierter Vortrag dagegen nicht ansatzweise ersichtlich“, „fehlt es an jeglicher nachvollziehbarer Begründung“). Beachtlich an dieser Entscheidung ist auch die Schnelligkeit – die Verfassungsbeschwerde der BFH-Richterin wurde am 09.11.2021 erhoben, am 22.11.2021 begründet und dann in weniger als vier Wochen bearbeitet und zurückgewiesen.
Einschätzung und Praxishinweis
Der steuerliche Gesetzgeber produzierte – zumindest in der Vergangenheit – am laufenden Band verfassungswidrige steuerliche Regelungen (Erbschaftsteuergesetz, Arbeitszimmer, Entfernungspauschale) bzw. lässt ehemals verfassungskonforme steuerliche Regelung durch Nichtstun in Verfassungswidrigkeit erwachsen (Grundsteuer, Zinsen). Das rechtliche Vorgehen gegen solche Regelungen ist daher einerseits notwendig, andererseits aber – dass zeigen die jüngsten Entscheidungen deutlich – sehr mühselig und im Ergebnis leider nicht prognostizierbar.