„Zusätzliche“ Probleme bei der Lohnsteuer –
Finanzverwaltung gegen BFH beim sog. Zusätzlichkeitserfordernis
Hintergrund und BFH-Entscheidung
Zahlreiche verwendungsgebundene Leistungen vom Arbeitgeber an Arbeitnehmer sind steuer- bzw. sozialversicherungsfrei oder ‑begünstigt, wenn sie vom Arbeitgeber „zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn“ erbracht werden. Dies betrifft zum Beispiel Zuschüsse zur ÖPNV-Nutzung, Kindergartenkosten und Gesundheitsprävention oder Sachleistungen wie das Betriebsfahrrad (§ 3 Nr. 15, 33, 34, 37 EStG u.v.a.). Auch die 44-Euro-Sachbezugsfreigrenze steht seit 2020 unter diesem Zusätzlichkeitserfordernis.
Der BFH änderte mit Urteilen vom 01.08.2019 (u. a. VI R 32/18) seine Rechtsprechung zum sog. Zusätzlichkeitserfordernis. Er unterscheidet nun nicht mehr danach, ob die Leistung durch Gehaltsumwandlung oder „echt zusätzlich“ gewährt wird, sondern nur danach, ob es verwendungsfreier („normaler“) Arbeitslohn oder zweckgebundener Arbeitslohn ist, der dann „zusätzlich“ zum verwendungsfreien Lohn gewährt wird. Die Änderung der BFH-Rechtsprechung bedeutete eine Klärung und Vereinfachung in der Anwendung der gesetzlichen Regelungen.
Die Finanzverwaltung schlägt zurück
Leider folgt die Finanzverwaltung der Rechtsprechung nicht. Versteckt im Gesetzesentwurf zur Einführung einer Grundrente vom 16.01.2020 findet sich ein neuer § 8 Abs. 4 EStG‑E, der die Anforderungen aus dem Zusätzlichkeitserfordernis erheblich wie folgt verschärft:
„Im Sinne dieses Gesetzes werden Leistungen des Arbeitgebers … nur dann zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn erbracht, wenn
- der Wert der Leistung nicht auf den Anspruch auf Arbeitslohn angerechnet,
- der Anspruch auf Arbeitslohn nicht zugunsten der Leistung herabgesetzt oder
- die verwendungs- oder zweckgebundene Leistung nicht anstelle einer Erhöhung des Arbeitslohns gewährt wird.“
Begleitend veröffentlichte die Finanzverwaltung am 05.02.2020 einen noch weitergehenden Nichtanwendungserlass zu den BFH-Urteilen. Damit werden die Finanzämter angewiesen, bis zu einer Gesetzesänderung das Zusätzlichkeitserfordernisnur dann als erfüllt anzusehen, wenn:
„1. die Leistung nicht auf den Anspruch auf Arbeitslohn angerechnet,
2. der Anspruch auf Arbeitslohn nicht zugunsten der Leistung herabgesetzt,
3. die verwendungs- oder zweckgebundene Leistung nicht anstelle einer bereits vereinbarten künftigen Erhöhung des Arbeitslohns gewährt und
4. bei Wegfall der Leistung der Arbeitslohn nicht erhöht“ [wird].
Diese Voraussetzungen seien in allen noch offenen Fällen anzuwenden.
Praxisfolgen: zusätzliches Chaos absehbar
Die neue Auffassung der Finanzverwaltung ist aus der Sicht des öffentlichen Dienstes geprägt, in der Zulagen unabhängig von der konkreten Arbeitsleistung und Wertschöpfung üblich sind. Für die Wirtschaft ist diese Auffassung unsinnig – Leistungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer sind immer Gegenleistungen für die Arbeitsleistung (ansonsten unterlägen sie auch nicht der Einkommensteuer).
Sollte der Gesetzesentwurf umgesetzt werden – ggf. auch mit dem Wortlaut des BMF-Schreibens – wird dies erhebliches Konfliktpotenzial und Risiken in künftige Lohnsteuerprüfungen tragen.
Beispiel: A GmbH (nicht tarifgebunden, individuelle Arbeitsverträge) gewährt allen Mitarbeitern ein Dienstfahrrad auch zur privaten Nutzung mit monatlichen Kosten bis max. 100 Euro (Leasing) und in Einzelfällen einen Kindergartenzuschuss.
Beurteilung nach den vier von der Finanzverwaltung aufgestellten Zusätzlichkeitskriterien:
- Ob das Dienstfahrrad „auf den Arbeitslohn angerechnet“ wird, ist nicht erkennbar, da es Bestandteil des Vergütungspaketes ist. Bei Neueinstellungen dürfte das Dienstfahrrad zur Nutzung der Steuerfreiheit wohl erst nach Einigkeit über den Barlohn erwähnt werden — was praktisch unmöglich ist, wenn beides im Arbeitsvertrag steht.
- „Echte Gehaltsumwandlungen“ sind der einzige Anwendungsfall, der abgrenzbar ist.
- Es ist i.d.R. mindestens ein bis zwei Jahre vorhersehbar, dass Kinder in den Kindergarten kommen. Ob ein Kindergartenzuschuss zum Eintrittszeitpunkt dann anstelle einer (ohnehin) erfolgten Gehaltserhöhung (Gesetzesentwurf) gewährt wird, wird nie sicher beurteilbar sein. Der Steuerpflichtige wird einen entsprechenden Beweis daher kaum führen können. Moderater ist die abweichende Fassung im BMF-Schreiben.
- Offen ist auch, welche zeitliche Grenze für ein „Verbot“ einer Gehaltserhöhung nach Wegfall des Kindergartenzuschusses gelten sollte – wenn beispielsweise das Kind in die Schule kommt. Der Ausdruck „bei Wegfall“ legt zwar einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang (gleicher Monat) nahe – sicher ist das nicht.
Die Reaktion der Finanzverwaltung schränkt den Anwendungsbereich der Regelungen, mit denen gesellschaftlich gewolltes Verhalten (Nutzung ÖPNV, Kinderbetreuung, Gesundheitsvorsorge, Fahrradfahren etc.) gesetzlich gefördert werden soll, deutlich ein und schafft erhebliches Risikopotenzial in Lohnsteueraußenprüfungen. Es konterkariert damit das Ziel der gesetzlichen Regelungen.